Blockchain in der Textilindustrie
Diesmal in unserem Experteninterview: Peter Merkert, CTO und Blockchain Experte für Retraced.co, einem Start-up aus der Textilindustrie, dass die Blockchain für mehr Transparenz entlang der textilen Supply-Chain nutzt.
In den komplexen Lieferketten geht es neben lückenloser Transparenz und Datensicherheit auch um Nachhaltigkeit, denn der Verbraucher wünscht zunehmend detaillierte Informationen über die Herkunft der Rohstoffe.
Aber auch die Umwelt- und Sozialstandards von Unternehmen interessieren die Kunden, denn sie möchten mit ihrem Kauf entsprechende Projekte und Marken unterstützen.
Über QR-Codes erhalten die Kunden von retraced weitere Informationen zu den Standards und können sicher sein, ein Originalprodukt zu erwerben.
Hersteller haben mit der retraced-Plattform die Möglichkeit, ihre Kunden anzusprechen und sie möglichst lange an sich zu binden.
Die Kommunikation der Partner innerhalb einer Lieferkette erfolgt dabei über die Blockchain. Durch die Einbindung der Endverbraucher und Konsumenten bekommt jedes Modestück eine eigene Identität, und zwar schon bevor es eigentlich produziert wird.
Welches Ziel verfolgt das Unternehmen retraced?
retraced möchte die Wertschöpfungsketten der Modeindustrie transparent machen, um faire und umweltschonende Prozesse zu ermöglichen.
Dafür bieten wir Modemarken eine Plattform zum Automatisieren aller Aufgaben in ihren Lieferketten.
Mit den uns zur Verfügung gestellten Daten analysieren wir dann die Wertschöpfungsketten, um nachzuvollziehen, woher die Konsumgüter und deren Bestandteile eigentlich stammen.
In diesem Prozess steht für uns die Bewertung auf Nachhaltigkeitskriterien im Mittelpunkt.
Durch das Abbilden der Wertschöpfungskette erschließen wir das Netzwerk aller partizipierender
Parteien, wie Farmen und Webereien.
Die Beweise für die Verbindungen zwischen einzelnen Parteien liegen in Form von entsprechenden Bestellungs- und Rechnungsdokumenten, Zertifizierungen und Auditierungen vor.
Das Wunderbare an unserer Plattform ist, dass diese nur noch einmal pro Teilnehmer hochgeladen werden müssen und dann als Profil auch für andere Modemarken und Netzwerkteilnehmer zur Verfügung steht. Damit werden unendlich viele Kommunikationsmedien redundant.
Das Erfragen von Ansprechpartnern ist hinfällig und die Sicherstellung von aktuellen Daten sowie tausenden Excel Files (die schon in dem Moment veraltet sind, in dem man auf speichern klickt!) ist überflüssig.
Sofern gewünscht, können unsere Kunden die Entstehungsgeschichten ihrer Produkte auch ihren Endkunden kommunizieren – entweder mit unserem Widget für Onlineshops, Aufstellern in den Filialen oder über einen QR-Code, den man in unserer App scannen kann.
Wie steht die digitale Plattform von retraced im Zusammenhang mit der Blockchain?
Wir nutzen das Potenzial der Blockchain in der Textilindustrie als Fundament für unsere Lösung. Nur so können wir die Echtheit der Daten gewährleisten.
Die Blockchain lässt uns ein unveränderbares Logbuch führen, in dem alle hochgeladenen Informationen wie Bilder oder relevante Dokumente eingetragen sind und wir so nachvollziehen können, wo die entsprechende Verantwortung entlang der Lieferkette liegt.
Derzeit kann die Verantwortung in einer Wertschöpfungskette nicht mehr effektiv nachkonstruiert werden, weil die Prozesse so gut wie gar nicht digitalisiert sind.
Selbst wenn ein Unternehmen seine Lieferketten digitalisiert, muss das nicht unbedingt einen Fortschritt bedeuten. Denn das passiert meistens nur in Form von Excellisten.
Und auch wenn eine Partei in der Lieferkette ein ausgereifteres System nutzt – wie zum Verwalten der Bestellungen – so ist dies ein geschlossenes System, nicht nutzbar für außenstehende Parteien.
Unsere Plattform revolutioniert das aktuelle Lieferkettenmanagement, auch dank der Blockchain-Technologie. Ich bin sicher, die Blockchain in der Textilindustrie steht vor einer großartigen Zukunft.
Wie schätzen Sie die Relevanz von „Trust and Transparency“ in der heutigen Zeit ein?
Die Blockchain in der Textilindustrie ist ein hilfreiches Mittel, um Vertrauen zwischen den Stakeholdern wiederherzustellen, das durch geschlossene Systeme verloren ging. Über die Jahre gab es viel Systemfluktuation. Es sind geschlossene Systeme gekommen und gegangen.
Das hat dazu geführt, dass unter anderem alte Webseiten nicht mehr funktionieren. Wir können uns also nicht mehr darauf verlassen, dass Informationen, die wir heute sehen, morgen noch verfügbar sind.
Um dem entgegenzuwirken, können wir Informationen in ein dezentrales System auslagern. So bleiben die Informationen im System, auch wenn eine Partei wegfällt, die Systemintegrität wird nicht angegriffen. Hier offenbart sich das Potenzial der Blockchain.
Doch auch bei der ausgereiftesten Blockchain bleibt das grundlegende Problem bestehen: Sobald die letzte Partei das System verlässt, sind die Informationen verloren.
Hier sehe ich eine der zukünftigen Herausforderungen der Technologie: Wie können wir Blockchains und die in ihnen gespeicherten Daten archivieren – vielleicht in einer Meta Blockchain?
Das alles hat jedoch noch nichts mit Transparenz zu tun, weil die Blockchain allein diese nicht ermöglicht. Denn die Blockchain kann nur das anzeigen, was der Mensch an Daten eingibt – wie das in jedem System der Fall ist.
Sie ermöglicht nur, dass mehrere Parteien eine eingegebene Information als richtig markieren und das Erkennen dieser Parteien im Nachhinein, um Verantwortlichkeiten zuordnen zu können. Aber selbst dann kann die Information an sich noch fehlerbehaftet sein.
So kann z. B. ein invalides Zertifikat eingepflegt werden und ohne die notarielle oder zentrale Bestätigung der Echtheit der Ausstellungsstelle gibt es keine Garantie für deren Echtheit.
Blockchain in der Textilindustrie – Wie sieht die Zukunft im Supply Chain Tracking aus?
Unser Name retraced basiert auf dem Englischen „trace“. Damit machen wir den Stellenwert, den Tracing für uns hat, offensichtlich, aber nicht nur als Anwendungsfall für Blockchain in der Textilindustrie. Das Tracing allein könnte auch in einem geschlossenen System passieren.
Vielmehr geht es darum, dass Unternehmen ihre Verantwortung gegenüber Mensch und Umwelt zu übernehmen, die mit globalen Lieferketten einhergeht – ganz besonders in der Realwirtschaft.
Technologien wie die Blockchain können dabei hilfreich sein. Aber es geht in erster Linie um die Bereitschaft der Unternehmen, sich mit ihren Lieferketten auseinanderzusetzen, die noch kaum vorhanden ist.
Es fehlt das Verständnis dafür, wie diese funktionieren. Auch hier gibt unser Name dezent einen Hinweis: Wir sind mit der Idee gestartet, Lieferketten so aktuell wie möglich abzubilden.
Das würde jede Partei der Wertschöpfungskette dazu verpflichten, alle Daten tagesaktuell in unserem System zu pflegen – das ist unrealistisch.
Denn Bestellungen vor allem in tieferen Ebenen der Wertschöpfungskette können bereits Monate zuvor ausgeführt worden sein. Das ist auch vollkommen legitim.
Zum Beispiel könnte die Baumwolle für ein T-Shirt bereits sechs Monate vor der eigentlichen Verarbeitung in der Spinnerei bestellt worden sein. Das Verfolgen von Lieferketten ist also immer eine Spurensuche in der Vergangenheit.
Diese Tatsache wollten wir in unserem Namen reflektieren und deutlich machen, dass die Produktionsschritte der Lieferkette, die „getraced“ wurden, bereits geschehen sind.
So sind wir auf die Vergangenheitsform von „trace“ gekommen und haben „retraced“ daraus gemacht.
Was den weiteren Fortschritt angeht, glaube ich, dass auch mit der Blockchain und transparenten Lieferketten, Real-time Tracing eine Ausnahme bleiben wird.
Ich sehe in Zukunft für die Blockchain in der Textilindustrie zwei Szenarien:
- Es gibt nur eine Blockchain
- Es gibt eine Meta-Blockchain für alle Tracing Lösungen
Je mehr verschiedene Blockchain Tracing Systeme existieren, desto verstreuter werden die TeilnehmerInnen sein. Das würde bedeuten, dass ein Teil des Netzwerkes in einer Blockchain ist direkt ins Carelabel gestrickte QR-Codes. So bleibt der QR-Code immer am Produkt und ist auch in Zukunft lesbar.
Wie ist die aktuelle Nachfrage und wie verwenden die Kunden ihre Plattform in der Praxis?
Wir haben 15-20 aktive Modemarken auf unserer Plattform. Daneben einige dutzende Hersteller und Zulieferer, welche ebenfalls ihre Profile aktiv nutzen und Beweise für Gütertransfers hochladen.
Wir sind in etwa zehn Webshops etabliert und haben über 100.000 Produkte auf dem Markt, die durch unseren QR-Code oder NFC Chip identifiziert sind. Ich würde also sagen, wir sind auf einem guten Weg.
Wieso haben Sie sich für die Blockchain Solution Cloud von Oracle entschieden?
Einer der Hauptbeweggründe war der Zeitpunkt unserer Gründung. Anfang 2018 gab es als große Anbieter nur Oracle und IBM mit Cloud Blockchain Lösungen.
Wir wollten uns nicht mit den technischen Details des Aufsetzens und der Wartung der Blockchain-Infrastruktur beschäftigen. Vielmehr brauchten wir eine Cloud Lösung mit Smart Contract, der die eigentliche Business-Logik beinhaltet.
Außerdem wollten wir eine zugangsbeschränkte Blockchain, weshalb wir uns auf die Hyperledger Fabric als verbreitete Lösung festgelegt hatten. Oracle und IBM erfüllten beide dieser Kriterien.
Oracle machte das Rennen, als wir unsere Idee für retraced bei Oracle For Start-ups vorstellten und direkt aufgenommen wurden. Seitdem genießen wir ausgiebigen Support und beteiligen uns auch aktiv an der Entwicklung der Oracle-Blockchain-Plattform.
Welche Zielgruppe ist besonders interessiert an Nachhaltigkeit?
Besonders jüngeren Generationen liegt dieses Thema am Herzen. So beschreibt eine Studie, dass 89 Prozent der Generation Z eher von einer Firma kaufen würde, die sozial positive und umweltfreundliche Maßnahmen verfolgt. (CONE, Gen Z CSR Study, Jun 2017).
Auch wenn das die Hauptzielgruppe ist, so ist das Thema der Nachhaltigkeit in aller Munde. Das merken wir auch durch steigende Neukundenanfragen für unsere Plattform.
Wie schätzen Sie die Entwicklung Ihrer Branche ein?
Die Corona-Pandemie schränkte auch uns sehr stark in der Ausübung unseres Geschäfts ein. Schließlich war die Modebranche die am zweithärtesten betroffene Branche. Dort waren die Auswirkungen sogar etwas früher spürbar als in anderen Industrien.
Wir waren zwar als technische Lösung nicht direkt betroffen, aber viele unsere Kunden hatten auf einmal keine Ressourcen mehr sich mit unserer Software auseinanderzusetzen.
Dieses durch Corona bedingte Vakuum haben jedoch proaktiv genutzt. Nachdem wir zu dem Zeitpunkt seit etwa einem Jahr auf dem Markt gewesen sind, holten wir Feedback ein und passten unsere Plattform entsprechend der Nachfrage an.
Das führte zu stark steigenden Anfragen seit den Sommermonaten, was uns natürlich freut.
Preisträger Sonderpreis für Digitalisierung
Anmerkung der Redaktion: retraced gewann den Sonderpreis für Digitalisierung beim Deutschen Nachhaltigkeitspreis. Die Begründung der Jury dazu:
Ziel des Düsseldorfer Unternehmens ist es, Verbraucher/innen aufzuzeigen, inwieweit ihr Konsumverhalten die Umwelt und das Leben der Menschen hinter dem Produkt beeinflusst und ihr Bewusstsein für den Konsum fair hergestellter Mode zu schärfen. Gleichzeitig will retraced fairen Marken durch die Dienstleistung einen Wettbewerbsvorteil verschaffen und den Druck auf kommerzielle Modemarken erhöhen, ebenfalls an den eigenen Produktionsstandards zu arbeiten, um schlechte Umwelt- und Arbeitsbedingungen zu bekämpfen. Die Jury würdigt die Retraced GmbH mit dem Sonderpreis Digitalisierung in der Kategorie Startups. Quelle Deutscher Nachhaltigkeitspreis
Welche Vorteile haben Zulieferer von der Blockchain in der Textilindustrie?
Zulieferer sind heutzutage komplett überlastet mit den Anforderungen ihrer Kunden, den Modemarken. Sie wissen gar nicht, wann, wie und wo sie die ganzen Dokumente und Papiere einreichen sollen.
Die in den meisten Fällen sowieso für die einzelnen Modemarken dieselben sind. Hier kein die Blockchain für die Textilindustrie großes bewegen.
Es ist ein schier unbezwingbarer Berg an Papierkram, weil sie keine technische Lösung für Zertifizierungen, Audits oder andere Dokumente haben. Und so auch nicht beweisen können, woher sie ihre Materialien beziehen.
Die Modemarken brauchen diese Dokumente jedoch, um sich bezüglich der Produktherkunft abzusichern.
Und genau bei diesem Problem setzen wir an: Mit retraced können sich die Zulieferer ein Profil anlegen, alle erforderlichen Dokumente hochladen und den Modemarken übermitteln.
Auch die Kommunikation wird um einiges leichter. Einerseits bieten wir einen Ort für Zulieferer wie Modemarken, an dem sie aktuelle Kontaktinformationen angeben und finden können.
Andererseits können Modemarken, die neu bei uns sind, ihre Zulieferer suchen und mit hoher Wahrscheinlichkeit finden, weil eine andere Modemarke diesen ebenfalls nutzt. Das wird mit Blockchains in der Textilindustrie zukünftig möglich sein.
Interessanterweise kamen bereits auch Zulieferer proaktiv auf uns zu, weil sie sich gerne von der Konkurrenz abheben möchten. Denn auch bei ihnen ist Transparenz mittlerweile ein wettbewerbsentscheidendes Kriterium.
Wenn man dann Wertschöpfungskette, Arbeitsbedingungen und Zertifizierungen bereits nachweisen kann, ist die halbe Überzeugungsarbeit schon geleistet.
Wie stellen Sie sicher, dass keine sensiblen Daten an die Wettbewerber gelangen?
Die Blockchain von uns ist eine zugangsbeschränkte Blockchain, womit wir ganz genau bestimmen können, wer das Netzwerk betreten darf und wer welche Informationen auslesen kann. Diese Art der Softwarearchitektur macht es uns sehr einfach, nur die Daten zu zeigen, die auch gezeigt werden sollen.
Dabei muss ich aber auch sagen, dass nur ein Teil der Daten auf der Blockchain gespeichert werden dürfen, da einige Daten schon gesondert durch rechtliche Grundlagen wie DSGVO geschützt werden.
Wenn wir noch einmal in die Zukunft blicken, müssen wir uns auch hier absichern. Denn es kann immer sein, dass zukünftige rechtliche Maßnahmen das Speichern von weiteren Daten auf der Blockchain verbieten.
Durch unsere aktuelle Limitierung ist eine Aufsplittung von Blockchain zu Offchain-Daten notwendig, um nicht gegen ein mögliches Gesetz zu verstoßen. Grundsätzlich sind Blockchains sehr sicher, denn sie machen die Daten praktisch unveränderbar.